Vom Reload zum Upgrade. Ein Ptolemäus für das 16. Jahrhundert
Autoritäten können lähmen und beflügeln. Claudius Ptolemäus (um 100–nach 160) war eine Autorität, die größte in der Geschichte der Geografie, und er hat über weit mehr als ein Jahrtausend immer wieder das Bild bestimmt, das sich die Menschen von ihrer Erde machten. Mit Renaissance, Humanismus und Buchdruck erlebte der Universalgelehrte seine letzte und größte Blüte.
Übersetzungen, Neuanfertigungen von Karten sowie Druckausgaben – das späte 15. und 16. Jahrhundert brachten eine höchst fruchtbare Revitalisierung und explosionsartige Verbreitung der ptolemäischen »Geographia«. Die Antike aber, sosehr sie auch noch als Leitstern diente, konnte den Ansprüchen in Zeiten eines Magellan oder Kopernikus nicht mehr genügen. Zwar mochte man nicht auf ihre Erkenntnisse verzichten – sich aber deswegen von ihr Fesseln anlegen lassen? Man musste neue Wege gehen.
Neue Karten für ein altes Werk
Die acht Bücher der »Geographia« boten eine überwältigende Fülle erdkundlicher Informationen, die nicht zuletzt als Grundlage für Karten dienen sollten, entsprechende antike Darstellungen lagen aber nicht vor. Und so entstanden mit den Ptolemäus-Ausgaben der Renaissance auf dem Text basierende kartografische Beigaben, die um »moderne« Blätter erweitert wurden. Schließlich hatte sich die Welt verändert – auch in Deutschland, das nur noch entfernt an das Germanien vergangener Zeiten erinnerte. Das ließ sich unschwer aus der »Tabula moderna Germanie« entnehmen. Dieses Blatt zählte neben den »echten« ptolemäischen Karten zu den 20 aktuellen kartografischen Ergänzungen einer Ausgabe der »Geographia«, die 1513 in Straßburg erschien. Herausgeber des Werkes war Johannes Schott (1477–um 1550), als Kartograf fungierte vor allem Martin Waldseemüller (um 1473–1520), der auch für die Darstellung Deutschlands verantwortlich zeichnete.
Auf der Höhe der Zeit
Der Name Waldseemüllers steht für höchste wissenschaftliche Qualität – und einen berühmten Meilenstein der Kartografiegeschichte, war er es doch, der auf seiner Weltkarte von 1507 mit der erstmaligen Benennung der Neuen Welt als Amerika dem neu entdeckten Kontinent den Taufschein ausstellte. Und auch bei der Präsentation seines Heimatlandes zeigt sich der Deutsche ganz auf der Höhe der Zeit. Angabe der Breitengrade, eine Maßstabsleiste und eine schon ziemlich zutreffende Erfassung der geografischen Gestalt Deutschlands – wir erleben hier die Anfänge der Kartografie im Geist moderner Wissenschaft. Waldseemüllers runderneuerter Ptolemäus lässt vor allem die mittelalterlichen Kartenmacher, die noch erdkundliches Wissen mit Heilsgeschichte und Theologie ein Einklang zu bringen suchten, weit hinter sich. In seiner nüchternen geografischen Welt bieten weder Paradies noch Leib Christi Orientierung und Trost. Dafür ziehen sich in kräftigem Blau die großen Flüsse durch Mitteleuropa, während Alpen und weitere Gebirge in ihrer plastischen Gestaltung überdeutlich hervortreten.
Wissen und Nutzen
Waldseemüllers Karte war informativ – und sehr brauchbar, bot sie doch nicht nur die naturräumliche, sondern auch die zivilisatorisch-politische Gestalt eines Landes am Vorabend der Reformation. Zumindest in den Grundzügen: Die wichtigen Städte sind verzeichnet – und auch die bedeutenden Territorien: Sachsen (Saxonia), Westfalen (Westfalia), Bayern (Bavaria), Österreich (Austria), Böhmen (Boemia) … Bisweilen stutzt der Betrachter aber auch: Auf der linken Seite etwa begegnet mittig die im Stil der Landesbezeichnungen gelb unterlegte und rot umrandete Bezeichnung »WIRT«. Man muss schon zweimal hinsehen, um zu begreifen: Der offensichtlich geografisch weniger Kundige, der den Holzschnitt kolorierte, hatte vergessen, auch die unter dem mysteriösen Namen positionierten Wortbestandteile entsprechend zu gestalten: »EN«, »BE« und »RG«. Württemberg war natürlich gemeint. Aber der Herzog des Landes dürfte auch hier kein Problem gehabt haben, sich zu orientieren – wie auch all die anderen Fürsten, Geschäftsleute und Gelehrten, die den Kartografen hochwertige Blätter wie die Waldseemüllers aus den Händen rissen. Die Zeit dürstete nach Informationen. Religion mochte zwar für das Seelenheil wichtig sein, als geografischer Wegweiser war sie weniger brauchbar. Da taugte Ptolemäus schon sehr viel mehr, aber auch mit ihm kam man nicht nach Hamburg, Thüringen oder Pommern, von Amerika ganz zu schweigen. Auf den Reload antiken Wissens musste der Upgrade folgen. Martin Waldseemüller und seinesgleichen waren dafür zuständig.
© Text: Dr. Markus Schreiber für interconcept
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Fotos: University of Virginia/Gemeinfrei
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